Just Culture, auf Deutsch auch als Redlichkeitskultur bezeichnet, ist kein neues Konzept. Bereits im Jahr 1977 formulierte der englische Sicherheitsforscher James Reason die Forderung, dass jede Organisation, die mit grösseren technischen Risiken konfrontiert ist, eine sogenannte Just Culture haben müsse. Dabei verstand James Reason unter Just Culture eine Organisationskultur, die von einer Atmosphäre des Vertrauens geprägt ist. Diese Atmosphäre ermutigt die Mitarbeitenden, Fehler und andere sicherheitsrelevante Vorkommnisse zu melden. Im Gegenzug sollen die Mitarbeitenden für die gemeldeten Fehler nicht bestraft werden. Die Just Culture ist allerdings kein Konzept der Straflosigkeit. Einem Fehlverhalten, das eine Person mit Absicht oder grober Fahrlässigkeit begangen hat, sollen nichtsdestotrotz Konsequenzen folgen. Hat eine Person aber nach bestem Wissen und Gewissen agiert und ist ihr trotz allem ein Fehler unterlaufen, soll sie diesen Fehler melden können, ohne dafür belangt zu werden.

Unterschiedliche Umsetzung in den europäischen Staaten 

Heute werden die Staaten der EU sowie die Schweiz dazu verpflichtet, die Just Culture im Bereich der Zivilluftfahrt umzusetzen. So schreibt die EU-Verordnung Nr. 376/2014, welche das Meldewesen (Occurrence Reporting) in der Zivilluftfahrt regelt, vor, dass Meldungen, welche über das Meldewesen aufgegeben werden, nicht zum Nachteil der meldenden Personen verwendet werden dürfen. Insbesondere sollten solche Meldungen nicht zu einem Strafverfahren führen. Dieser Schutz gilt gemäss der Verordnung allerdings nicht, wenn eine Person vorsätzlich oder grobfahrlässig handelt. Des Weiteren überlässt die erwähnt Verordnung den europäischen Mitgliedstaaten sowie der Schweiz einen enormen Handlungsspielraum in der Umsetzung der Just Culture. Dieser Handlungsspielraum hat dazu geführt, dass die einzelnen Staaten die Just Culture ganz unterschiedlich in ihrem eigenen Recht umsetzen. 

Schweden als Vorreiter in Sachen Just Culture

Ein Staat, der eine sehr weit gehende Umsetzung der Just Culture gefunden hat, ist Schweden. Dort wurde ein äusserst ausgeklügeltes System geschaffen, das der Just Culture weit über die Zivilluftfahrt hinaus zum Durchbruch verhilft. So erklärt das schwedische Öffentlichkeits- und Datenschutzgesetz (Offentlighets- och sekretesslag) diverse Akten oder Informationen, welche den Behörden aufgrund einer Meldepflicht offengelegt werden müssen, für vertraulich. Unter diese Vertraulichkeit fallen auch Meldungen über sicherheitsrelevante Ereignisse in der Zivilluftfahrt, welche dem schwedischen Zentralamt für Transport (Transportstyrelsen) aufgrund des europäischen Occurrence Reporting mitgeteilt werden müssen. Dies hat zur Folge, dass das Zentralamt für Transport erstens diese Meldungen nicht selbst z. B. gegen fehlbare Pilotinnen und Piloten verwenden darf. Zweitens ist es dem Amt verwehrt, diese Meldungen an die Staatsanwaltschaft zur Strafverfolgung weiterzuleiten. Nur dann, wenn durch den Inhalt einer Meldung eine Straftat aufgedeckt werden kann, die wahrscheinlich zu einer Haftstrafe führen würde, ist eine Weiterleitung an die Strafbehörden möglich.

Weniger weit gehende Umsetzung in der Schweiz

In der Schweiz ist die Umsetzung der Just Culture nicht derart umfassend. Dies hat auch die durch FFAC und CFAC-HSG durchgeführte Stakeholder-Analyse gezeigt, in deren Rahmen 58 ausgewählte Akteurinnen und Akteure aus den Gebieten der Zivil- und Militäraviatik, des Gesundheitswesens, der Eisenbahn, der Seilbahnen und der Kernenergie befragt wurden. Die hohe Anzahl an Interviews ermöglichte es, einen breiten Querschnitt aus verschiedenen sicherheitsrelevanten Gebieten abzubilden. In der Schweiz ist nämlich nicht nur die Zivilaviatik verpflichtet, Fehler zu melden. Auch in den Bereichen der Kernenergie sowie der Eisen- und Seilbahnen bestehen ähnliche Meldepflichten. Das Gesundheitswesen hingegen kennt das freiwillige Meldesystem CIRS und die damit verbundene Plattform CIRRNET. Schliesslich hat sich auch die Luftwaffe aus eigenem Antrieb zur Umsetzung einer auf Vertrauen basierenden Sicherheitskultur verpflichtet.

Verständnis für Redlichkeitskultur besteht

Die Auswertung der durchgeführten Interviews zeigt, dass in allen untersuchten Bereichen ein Verständnis dafür besteht, was eine Redlichkeitskultur ist. Als wichtige Voraussetzungen für ein entsprechendes Vertrauensverhältnis nennen viele Führungskräfte das allseitige Vorleben der entsprechenden Prinzipien, die vertrauliche und ernsthafte Behandlung von Meldungen sowie die rasche Abgabe von Rückmeldungen. Als dem Vertrauen abträglich betrachtet werden hingegen die Bestrafung von Fehlern, solange diese Fehler in einem akzeptablen Ausmass liegen. Zudem zeigt die Stakeholder-Analyse auch strukturelle Unterschiede in der Handhabung von Vertrauensmeldungen auf. Während nämlich viele Airlines das Meldewesen strikte von betriebsinternen Disziplinarwegen trennen, sind in anderen Bereichen die Meldesysteme beim Management angesiedelt. Viele dieser Unternehmen konstatieren zwar eine gute Vertrauensatmosphäre. Es stellt sich aber die berechtigte Frage, wie eine Organisation wissen kann, welche Informationen ihr vorenthalten werden, wenn sie nicht über eine unabhängige Meldestelle verfügt. Zumindest bei der Swiss hätten sich die Fehlermeldungen nach der Einführung eines vertraulichen Meldesystems immerhin verdoppelt.

Angst vor Konsequenzen

Fehlender Schutz im Schweizer Strafrecht problematisch Des Weiteren empfinden es viele der Befragten als problematisch, dass der Schutz der Inhalte von Fehlermeldesystemen in der Schweiz zu wenig im Gesetz verankert ist. Viele schliessen daher nicht aus, dass Meldende Angst vor Konsequenzen haben, was den Meldefluss von sicherheitsrelevanten Informationen behindern könnte. Nebst dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf vertrauliche Inhalte unternehmensinterner Fehlermeldesysteme werden ebenso Administrativmassnahmen von Aufsichtsbehörden befürchtet. Immerhin seien bereits Unfallberichte der Sicherheitsuntersuchungsstelle SUST, die eigentlich nur der Erhöhung der Sicherheit dienen sollen, vor Gericht zur Klärung der Schuldfrage verwendet worden. Bereichsübergreifend fordern daher auffallend viele der Befragten einen gesetzlichen Schutz der Inhalte von Meldesystemen. Letztlich zeige sich hier nämlich ein Zielkonflikt: Während die Justiz der Aufklärung von Straftatbeständen und der Bestrafung von Schuldigen verpflichtet sei, bedinge die proaktive Verbesserung der Sicherheit eine Vertrauenskultur und ein Offenlegen von Fehlern ohne Bestrafung.

Herausforderung bei der Abgrenzung von akzeptablen und nicht akzeptablen Fehlern

Schliesslich zeigt die Befragung, dass eine besondere Herausforderung in der Praxis darin liegt, zwischen noch tolerierbarem Fehlverhalten, das nicht geahndet wird, und nicht akzeptablem Verhalten, das Sanktionen nach sich ziehen muss, zu unterscheiden. Auch wenn ein breiter Konsens darin besteht, dass vorsätzlich oder grobfahrlässig herbeigeführte Fehler bestraft werden müssen, so ist die genaue Einordnung der Schwere eines Fehlers in der Praxis oft schwierig – gerade auch in Wiederholungsfällen. Ein ungeahndeter Disziplinarfall kann aber die Glaubwürdigkeit eines vertraulichen Meldesystems ebenso in Mitleidenschaft ziehen wie ein zu Unrecht disziplinarisch gehandhabter Redlichkeitsfall. In der Praxis ergibt sich aus dieser Problematik ein starkes Bedürfnis nach Richtlinien, welche die verantwortlichen Personen darin unterstützen, die Handlungen im Sinne der Just Culture richtig einzuordnen. Dies gilt insbesondere für Organisationen ohne Trennung zwischen Fehlermelde- und Disziplinarwegen, in denen die Führungskräfte sowohl die Sicherheitskultur als auch die Sanktionierung von Mitarbeitenden zu verantworten haben.

Die vollständige Studie der FFAC ist auf der Website des Bundesamts für Justiz frei einsehbar
Forschungsstudie zur Just Culture 

Das Thema «Just Culture» wird auch am ersten CFAC Airport Forum vom 11.11.2022 diskutiert werden

Über die Autoren
Raphael Widmer-Kaufmann, Dr. iur. HSG, ist als selbständiger Rechtsanwalt und Experte für Luft- fahrtrecht tätig. Er ist seit 2022 Fellow am CFAC-HSG und hat im Auftrag der FFAC den Rechtsvergleich der vorliegenden Studie erarbeitet.
Claudio Noto, Dr. oec. HSG, ist als Linienpilot und Ökonom tätig. Er ist seit 2016 Fellow am CFAC-HSG, Mitgründer der FFAC und hat die Stakeholder-Ana- lyse zusammen mit Dr. Andreas Wittmer seitens CFAC-HSG durchgeführt.