Es ist kurz nach 11.45 Uhr an einem Dienstag im Mai 2021, als in einem kleinen aargauischen Dorf die Kindergartenlehrerin ihre Kinder in die Mittagspause verabschiedet. Julian (Name von der Redaktion geändert) packt seine Sachen zusammen und macht sich mit seinen «Gschpänli» auf den Weg nach Hause. Der Bewegungsdrang der Kinder ist gross, manchmal rennen sie, manchmal verlassen sie den Schulweg für eine kleine Entdeckungsreise. Auf dem Heimweg müssen die Kinder die Hauptstrasse überqueren. Normalerweise benützen sie dazu den Fussgängerstreifen. Doch heute will Julian eine Abkürzung nehmen. Und da geschieht es: Er rennt unvermittelt und verdeckt von einem parkierten Auto auf die Hauptstrasse und wird von einem Lieferwagen erfasst, welcher trotz Vollbremsung die Kollision mit dem Sechsjährigen nicht verhindern kann. Julian gerät unter das Fahrzeug, wird eingeklemmt und bleibt verletzt liegen.

Schnelle und richtige Alarmauslösung

12.07 Uhr. Unmittelbar in der Nähe des Unfallorts hat ein Dorfbewohner die Kollision des Jungen mit dem Lieferwagen beobachtet. Er erfasst als ehemaliges Mitglied eines Care-Teams den Ernst der Lage schnell. Noch bevor er am Unfallort Erste Hilfe leistet, ruft er geistesgegenwärtig die Notrufnummer 144 an und schildert den Unfall dem Disponenten der kantonalen Notruf-Einsatzzentrale. Schnell realisiert dieser, dass ein Notarzt benötigt wird. Noch während der Beschreibung des Unfallhergangs alarmiert der Disponent deshalb die Rettungsmittel und die Polizei. Das Leitsystem in der Einsatzzentrale schlägt automatisch den Rettungswagen vor, der am schnellsten vor Ort sein kann. Dessen Team wird via Pager alarmiert, eine Information mit allen Angaben wird an Rettungswagen, Rettungswache und an das Spital mit Kinderklinik geschickt. Und der Disponent bietet sofort den Rettungshelikopter der Alpine Air Ambulance (AAA) auf der Basis Flugplatz Birrfeld auf. Jede Minute zählt.

Bei jedem Kindernotfall schlägt der Puls des Rettungsteams höher

Der durch die Notruf-Einsatzzentrale ausgelöste Alarm erreicht die diensthabende Helikoptercrew um 12.07 Uhr – noch während den weiteren Abklärungen des Disponenten. Bereits zwei Minuten später startet der Pilot mit einer Rettungssanitäterin (HEMS) und einem Notarzt an Bord des gelb-blauen zweimotorigen Airbus H135 mit der Immatrikulation HB-ZUE «Lions 1» ab dem Flugplatz Birrfeld. «Wir haben die Einsatzmeldung ‹Verletztes Kind und Verkehrsunfall› erhalten», erinnert sich Dr. Frank Mündel. Selbst als langjähriger und erfahrener Notarzt sei man dann angespannt, was einen gleich erwartet.

Nach einem kurzen Überflug landet der diensthabende Pilot, Nicola Schenker, den Rettungshelikopter neben der Strasse zwischen zwei Scheunen. HEMS-Crewmember Sandra Wenger und Notarzt Mündel packen ihre medizinischen Rucksäcke und steigen eilig aus dem Helikopter. Sie sehen das Kind am Strassenrand liegend in den Armen der Mutter. «Es war wach und ansprechbar», sagt der Arzt. Sofort beginnt er mit einem strukturieren Bodycheck – glücklicherweise zeigen sich keine schweren Verletzungen. Rund um das Geschehen stehen viele Schaulustige. «Der Junge hatte Schmerzen im Beckenbereich und mehrere Riss- und Schürfwunden», sagt Rettungssanitäterin Sandra Wenger. Aufgrund des Unfallgeschehens entschied sich das Rettungsteam, die Wirbelsäule zu fixieren und den Jungen rasch in ein Kinderspital mit Schockraum zu fliegen, denn das Ziel ist es, immer die schnellste und beste Behandlung zu ermöglichen. «Doch noch vor dem Flug legten wir einen venösen Zugang, um dem Jungen Schmerzmittel zu geben», sagt der Notarzt. Der Pilot entscheidet, dass der Vater mit ins Spital fliegen kann.

Nach einem stabilen Transport übergibt die AAA-Crew den Jungen an das Schockraumteam des Kinderspitals. Rückblickend ist die Crew überglücklich, dass das Kind beim Unfall wohl einen grossen Schutzengel hatte: «Der Kleine war unglaublich tapfer und die ganze Zeit über sehr ruhig.»

Wieder zuhause

Julian hatte wirklich Glück im Unglück. Die gründlichen Untersuchungen im Kinderspital Aarau förderten einen Schambeinbruch, Prellungen an den Beinen sowie Platz- und Risswunden zu Tage. Innere Verletzungen wurden glücklicherweise nicht diagnostiziert, Rücken und Kopf blieben unversehrt. Nach drei Tagen Spitalaufenthalt kann Julian wieder nach Hause, muss sich allerdings noch einige Wochen schonen.

Zurück bleibt ein wohl erhöhter Respekt vor den Gefahren des Stras­senverkehrs – und die Erinnerung in Dankbarkeit an seine Retter in der Not.

Kampagne «Hilf mit – rette Leben!»

Menschen hätten gerettet werden können oder würden weniger Folgeschäden von einem Notfall davontragen, wenn Ersthelfer schnell gehandelt und richtig reagiert hätten. Diese Erfahrung hat das Team der AAA motiviert, verschiedene Kampagnen zu lancieren, um die Laienreanimation noch bekannter zu machen und Menschen aufzurufen, im Notfall zu helfen. So lancierte der Rettungsdienst diesen Sommer gemeinsam mit Lidl Schweiz die Pilotkampagne «Hilf mit – rette Leben!», in deren Rahmen ein Flyer entstanden ist. Dieser beinhaltet eine praktische Anleitung für das richtige Handeln  im Notfall, welche heraustrennbar ist. Den Flyer finden Sie eingeklebt auf Seite 34 in der kommenden Ausgabe Nr. 11/2021 des «Cockpit» oder Sie können ihn mit Klick auf das Bild rechts direkt herunterladen. Die nächste gedruckte «Cockpit»-Ausgabe erscheint ab dem 12. November. Erhalten Sie die Ausgabe direkt in Ihren Briefkasten oder bestellen Sie die Einzelausgabe bequem online.